Sebastian Gießmann

Universität Siegen, Medienwissenschaftl. Seminar

Im Parlament der möglichen Medienpraktiken. Zur Situierung der Netzneutralitätskontroverse

Der Vortrag rekonstruiert eine Merkwürdigkeit der jüngeren Internet- und Rechtsgeschichte: In der Diskussion um »Netzneutralität« geht es um eine zunächst lediglich medientechnisch erscheinende Frage – wie werden Datenpakete in welcher Netzwerkarchitektur unter welchen Zugangsbedingungen transportiert? Rechtspolitisch erstmals verhandelt wurde dies nach einer Intervention von Lawrence Lessig und Tim Wu – in Rahmen einer Stellungnahme gegenüber dem amerikanischen Regulierer FCC (2003) – zunehmend als bürgerrechtliches Problem der Partizipation und Teilhabe an soziotechnischen Infrastrukturen. Parallel dazu entstanden innovationstheoretische und ökonomisch motivierte Analysen, die den Gleichheitsaspekt auf der Ebene des Marktzugangs ansetzen.

Die Netzneutralitätskontroverse stellte sich zunächst als ein hoch abstraktes politisch-ökonomisches Thema dar, das früher Expertenkreisen der Medienregulierung vorbehalten geblieben wäre. Die netzaktivistische Sensibilisierung für mögliche Auswirkungen auf Internetmedienpraktiken hat sich aber sukzessive als begründet erwiesen: Spätestens mit der von der Deutschen Telekom 2013 angekündigten, dann weitestgehend zurückgenommenen Drosselung von privaten Internetzugängen bei zu hohem Datenverbrauch hat sie auch die deutsche Öffentlichkeit erreicht.

Anhand der national unterschiedlich geführten Debatten zur Netzneutralität soll der Vortrag mittels »infrastruktureller Inversion« (Geoffey Bowker) zeigen, wie die strittige regulatorische Antizipation von möglichen Medienpraktiken zur Situierung der ganz alltäglichen Internetnutzung beiträgt. Annahme ist dabei, dass die Lokalisierung des Internets und seiner Dienste auch über seine jeweilige rechtliche Einbettung stattfindet. Gerade, indem man den Wunsch nach einem egalitären Zugang »account-able« macht (diskursiv, rechtlich, ökonomisch, technisch), wird das Internet durch die rechtliche Grundierung von Nutzungspraktiken infrastrukturell modifiziert.

Vita

Sebastian Gießmann forscht seit 2013 als Kultur- und Medienwissenschaftler an der Universität Siegen. Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtechniken der Kooperation, Netzwerkgeschichte, materielle Kultur, Rechtsanthropologie und Internetforschung. Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Kulturwissenschaften und von ilinx, Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft. Sebastian Gießmann ist mit Irina Kaldrack Sprecher der Arbeitsgruppe »Daten und Netzwerke« in der Gesellschaft für Medienwissenschaft.

Homepage: www.sebastiangiessmann.de