Jesko Jockenhövel

Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf

Film als Mittel der moralisch-künstlerischen Beweisführung - Thomas Harlans »Wundkanal«

Nachdem Regisseur und Autor Thomas Harlan 1959 nach der fünfzigsten Aufführung seines Theaterstückes Ich selbst und kein Engel einen Aufruf verlas, nationalsozialistische Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen, stand er ohne gültige Beweismittel dar. Im Auftrag des italienischen Verlegers Feltrinelli begab sich Harlan darauf 1959 nach Polen und leitete bis 1964 eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Massenvernichtung. Von dort aus lieferte er unzählige Dokumente an die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg, was zu zahlreichen Kriegsverbrecherprozessen führte. Doch neben dieser juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus ging es Harlan wesentlich auch um eine mediale oder künstlerische Auseinandersetzung. Sie flankiert die juristische Aufarbeitung und weist über den Einzelfall hinaus. Im englischen Drehbuch zu Harlans semi-dokumentarischen Film »Wundkanal« stellt er dies programmatisch vorweg: »Cinéma vérité? Perhaps. Except that truth in cinema is drawn from the imaginary, since no »document« could claim to be »truer« than that.« Sein Film »Wundkanal« ist in der Hauptrolle mit dem verurteiltem Kriegsverbrecher Alfred Filbert besetzt, der zu einem moralischen Schuldeingeständnis gebracht werden soll – juristisch verurteilt ist er bereits. Ausgehend vom in der Deutschen Kinemathek liegenden Nachlass Thomas Harlans, der zu einem wesentlichen Teil aus in Polen und der Sowjetunion gesammeltem Beweismaterial besteht, ergibt sich so für besonders für Harlans »Wundkanal« ein einzigartiger Kreislauf aus Rückgriff auf historisch, vor Gericht verwertbaren Beweisen auf der einen Seite und einer »zeitlichen Wahrheit« (Die Zeit) auf der anderen Seite, die sich gegenseitig beeinflussen und gleichzeitig quer zueinander stehen, jedoch nie unabhängig voneinander gesehen werden können. Harlans Schaffen ist damit sowohl ein Versuch der juristischen als auch der moralisch-künstlerischen Beweisführung.

Vita

Jesko Jockenhövel, seit 2010 akad. Mitarbeiter an der HFF »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg. Studium der Germanistik, Geschichte und Anglistik an der Universität Potsdam und der Medienwissenschaft an der HFF »Konrad Wolf« mit Gastsemestern im UK an der Kingston University und der Roehampton University. 2006 – 2008 wiss. Mitarbeiter in der Deutschen Kinemathek, Berlin. 2008 – 2010 akad. Mitarbeiter im Forschungsprojekt Prime an der HFF »Konrad Wolf«. 2013 Abschluss der Dissertation »Der digitale 3D-Film: Narration, Stereoskopie, Filmstil« gefördert vom DAAD. Erscheint Sommer 2014 im VS Verlag.