Evangelische Fachhochschule Bochum
Darstellungen der »Festung Europa« und ihrer Grenze gehören zum Repertoire des europäischen Kinos der letzten Jahre. Die Spielfilme beschäftigen sich mit den Etappen der Flucht - dem Aufbruch und der Perspektive auf das »gelobte Land« vom afrikanischen Kontinent aus gesehen (Loin, André Téchiné, F, 2001 oder Goodbye Morocco, Nadir Mocknèche, F/MA, 2011), der entbehrungsreichen und gefährlichen Reise (In this World, Michael Winterbottom, GB, 2002), der Ankunft und der Ablehnung durch die Bevölkerung im Ankunftsland (Terraferma, Emanuele Criralese, I, 2011), dem Überlebenskampf in Europa (Le silence de Lorna, Jean-Pierre und Luc Dardenne, BE/F/I/D, 2008). Mittels der dramatisierenden Darstellung politischer, gesellschaftlicher und juristischer Wirklichkeit wird der Begriff der Grenze kritisch hinterfragt und auf eine humanistische und manchmal metaphysische Ebene gehoben.
Die Suche nach Freiheit und einer gerechteren Gesellschaft ist Gegenstand von Aki Kaurismäkis Le Havre (F/FI/D 2011), der im Mittelpunkt dieses Vortrags stehen soll. Auch in seinem Film ist die Grenze keine abstrakte geometrische Linie oder Figur, sondern wird zu einem Spannungsfeld, auf dem entgegengesetzte Kräfte aufeinandertreffen. Der finnische Filmemacher bedient sich der Mittel des Märchens in einer nostalgisch aufgemachten Szenerie, doch sein Film ist alles andere als sentimentales Illusionskino. In einem Diskurs, der Hoffnung und Erlösung (im eschatologischen Sinn anbietet), und in dem intertextuelle Elemente ständig die Grenzen des eigenen Genres sprengen, reflektiert er über die französische Migrationspolitik, über Recht und Gesetz, über die Gewalt, die der Staat einsetzt, und über bürgerlichen Ungehorsam. Kaurismäkis Film kommentiert juristische und politische Bedingungen und weist in seiner Darstellung symbolischer und mentaler Grenzen über diese hinaus. Gelingt es dem Kino mittels seines kreativen Potenzials, Grenzen zu überwinden und Zeichen für Freiheit und Toleranz setzen?
Andrea Grunert ist Filmwissenschaftlerin, hat über die Filme von Clint Eastwood und das Motiv der »frontier« an der Universität Paris X promoviert. Ihre Arbeitsschwerpunkte: der zeitgenössische amerikanische, britische und irische Film und die filmische Repräsentation von Fremdheit und sozialen Minderheiten. Neben Beiträgen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen in F, D, GB etc. ist sie die Herausgeberin dreier Bücher der Reihe »CinémAction«, die der französische Verlag Charles Corlet herausgibt: Le corps filmé (2006), L«écran des frontières (2010) und De la pauvreté (2013).